Fritz Thyssen Stiftung Journal Allgemein Wegweisende Schritte für die Alzheimerforschung

Wegweisende Schritte für die Alzheimerforschung

Weltweit sind über 50 Millionen Menschen von Demenz betroffen. Die häufigste Form der Demenz ist dabei die Alzheimer-Krankheit. Alzheimer wird nach aktuellem Stand der Wissenschaft durch unlösliche Klumpen von Proteinen, den sogenannten Amyloid-Plaques, ausgelöst. Sie blockieren die Verbindungen zwischen Neuronen im Hirn und stören ihre Zellfunktion – die Gehirnzellen sterben ab.

Bis heute ist Alzheimer unheilbar. Der Prozess der zunehmenden Vergesslichkeit kann bis zur Unfähigkeit des Patienten fortschreiten, die einfachsten Dinge auszuführen. Dr. Jonas Neher hat seine berufliche Karriere der Erforschung neurodegenerativer Erkrankungen wie Alzheimer gewidmet. Seine aktuelle Forschung am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und dem Hertie Institut für klinische Hirnforschung in Tübingen hat Erkenntnisse gebracht, die in Zukunft völlig neue Therapieformen von Alzheimer möglich machen könnten. Schlüssel dafür ist der zentrale Bestandteil des Immunsystems des Gehirns – die Mikroglia-Fresszellen.

Die Beteiligten

Dr. Jonas Neher ist Gruppenleiter für Experimentelle Neuroimmunologie am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und am Hertie Institut für klinische Hirnforschung in Tübingen. „Wir interessieren uns dafür, wie die Immunzellen im Gehirn zu neurodegenerativen Erkrankungen beitragen“, beschreibt der 40-Jährige selbst seinen Forschungsschwerpunkt. Nach seiner Dissertation an der Universität Cambridge kehrte Neher 2012 nach Tübingen zurück und begann sich der Frage zu widmen, wie eine Entzündung außerhalb des Gehirns mit dem Immunsystem im Gehirn kommuniziert und langfristige Veränderungen bewirkt. Unterstützt wurde Neher dabei von DZNE-Arbeitsgruppen in Göttingen und Bonn und seinen Doktorandinnen Ann-Christin Wendeln und Karoline Degenhardt. Die Fritz Thyssen Stiftung förderte das Projekt von 2016 bis 2019.

Interview mit Dr. Jonas Neher zu neuen Alzheimer-Therapieformen, Teil 1/2

Interview mit Dr. Jonas Neher zu neuen Alzheimer-Therapieformen, Teil 2/2

Die Mikroglia

„Mikroglia sind die ersten Zellen, die reagieren, wenn eine Entzündung im Gehirn stattfindet“, erklärt Neher. „Wenn sie aktiviert werden, verändern sie ihr Aussehen. Dadurch können wir das im Labor sehr gut nachvollziehen.“ Wenn im Gehirn von Alzheimer-Patienten Amyloid-Plaques entstehen, reagieren die Mikroglia wie auf einen Krankheitserreger. Im frühen Krankheitsverlauf versuchen sie, die Amyloid-Plaques aufzufressen. Später wird diese Funktion jedoch gestört und die Mikroglia wechseln zu einer Schutzschild-Strategie: Sie umkreisen die Plaques und versuchen, einen schützenden Schild um die Proteinklumpen zu bilden, um die Gehirnzellen rings herum so wenig wie möglich zu beeinträchtigen.

  • Mikroglia-Fresszellen (schwarz) im Gehirn umkreisen und attackieren die Alzheimer-charakteristischen Amyloid-Plaques (rot). Bild: Jonas Neher/Hertie-Institut für klinische Hirnforschung

    Mikroglia

„Wir wussten bereits aus klinischen Studien, dass das Immunsystem in neurodegenerativen Erkrankungen und insbesondere der Alzheimer-Demenz eine große Rolle spielt“, sagt Neher. So erhöhen laut klinischen Studien bestimmte Genmutationen der Immunzellen im Gehirn das Risiko der Alzheimer-Demenz um ein Drei- bis Vierfaches. „Es war aber noch unklar, inwiefern Lifestyle-Faktoren wie Fettleibigkeit im mittleren Alter oder Infektionen außerhalb des Gehirns die Alzheimer-Erkrankung beeinflussen“, sagt Neher.

Wie beeinflussen Entzündungskrankheiten außerhalb des Gehirns den Krankheitsverlauf von Alzheimer?

Um dies herauszufinden, musste Neher zuerst Antworten auf die folgenden Fragen finden: Reagieren die Mikroglia auf periphere Entzündungen (Entzündungen im Körper außerhalb des Gehirns)? Und wenn dem so sein sollte: Wie beeinflussen periphere Entzündungen den Krankheitsverlauf von Alzheimer (die Entwicklung der Amyloid-Plaques im Hirn)?

Neher löste deshalb zuerst Entzündungen in den Körpern von Labormäusen aus, um eine Reaktion der Mikroglia in den Maushirnen zu provozieren. „Wir haben den Mäusen einen bakteriellen Stoff injiziert, der eine entzündliche Reaktion, vergleichbar mit einer leichten Grippe, ausgelöst hat. Das Tier ist daraufhin für ein paar Stunden ein wenig schlapp, erholt sich dann aber schnell wieder“, erklärt der Neuroimmunologe. Neher beobachtete dann, wie sich die Maushirne über einen langfristigen Zeitraum veränderten.

Zwei verschiedene Immunzustände: Training und Toleranz

Je nachdem, wie die Entzündungen im Körper der Mäuse ausgelöst wurden, reagierte das Immunsystem des Gehirns unterschiedlich. In einem Fall verstärkte sich die Immunreaktion der Mikroglia – Immunologen bezeichnen diesen Zustand als „Training“. Im anderen Fall wurde die Immunreaktion der Fresszellen jedoch unterdrückt – sie wurden „tolerant“. Neher konnte damit zeigen, dass die Fresszellen im Gehirn ein sogenanntes Immungedächtnis besitzen. Hier zeigt sich ein spannender Widerspruch zu der Reaktion des Immunsystems im Rest des Körpers, außerhalb des Gehirns, auf:

Außerhalb des Gehirns ist das „Immuntraining“ eine gute Art des Immungedächtnisses. „Denn trainierte Fresszellen können Krankheitserreger schneller zerstören“, erklärt Neher. Die Immuntoleranz ist außerhalb des Gehirns hingegen ein negativer Zustand: Das Immunsystem reagiert weniger gut auf eine erneute Infektion, der Körper wird anfälliger für Krankheitserreger.

Unerwartete Folgen für die Alzheimerforschung

Außerhalb des Gehirns ist Immuntraining also positiv und Immuntoleranz negativ. Im Gehirn wirken sich die beiden Zustände jedoch komplett umgekehrt aus, wie Neher in den folgenden Monaten beobachten konnte: „Die trainierten Mikroglia führten in den Mäusegehirnen zu einer verstärkten Ausbildung der Alzheimer-auslösenden Amyloid-Plaques. Tolerante Mikroglia hingegen verringerten deutlich die Anzahl der Plaques.“ Eine wegweisende Entdeckung.

Ein weiteres Puzzle-Teil auf der Suche nach einer Therapie für Alzheimer?

Nehers Forschungsergebnisse zeigen, dass entzündliche Stimulationen außerhalb des Gehirns langfristig das Immunsystem des Gehirns verändern können. „Es wäre also vorstellbar, dass wir zukünftig bei Patienten, die eine Entzündung durchlaufen haben, von der wir annehmen müssen, dass sie das Immunsystem im Gehirn verändert hat, präventiv durch eine Behandlung den Immungedächtniszustand im Gehirn rückgängig machen können“, sagt Neher. Damit könnten langfristige negative Auswirkungen auf neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer verhindert werden.

Nach den erfolgreichen Versuchen im Mausmodell sei jetzt der nächste Schritt herauszufinden, ob diese Beobachtungen auch auf Prozesse im menschlichen Gehirn zutreffen. Sollte dem so sein, könnten Nehers Funde ein wichtiger Baustein für zukünftige Therapien sein, die Alzheimer-Demenz endlich heilbar machen. Auch wenn diese Therapiemöglichkeiten noch Zukunftsmusik sind, die Anerkennung der Wissenschaft ist Neher schon gewiss. Denn seine Ergebnisse wurden 2018 im äußerst renommierten Wissenschaftsmagazin Nature veröffentlicht.

Hier der Link: https://www.nature.com/articles/s41586-018-0023-4

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