Fritz Thyssen Stiftung Journal Allgemein Mainzer Biochemiker machen wegweisende Entdeckung für die Forschung an Nervenerkrankungen

Mainzer Biochemiker machen wegweisende Entdeckung für die Forschung an Nervenerkrankungen

Prof. Dorothee Dormann konnte mit ihrem Team nachweisen, wie bei genetischen Formen von ALS und FTD schädliche Proteine essentielle Prozesse in Zellen stören. Diese Grundlagenforschung könnte in Zukunft zu neuen Therapie-Ansätzen verhelfen. Das FTS-Journal hat die Biochemikerin in ihrem Mainzer Labor besucht.

Prof. Dorothee Dormann im Interview, Video (mp4, 9:45 Minuten)

Durch den Astrophysiker Stephen Hawking kennt heute die ganze Welt die Krankheit Amyotrophe Lateralsklerose oder ALS. Und seit der Erkrankung von Hollywood-Star Bruce Willis ist nun auch die Frontotemporale Demenz, oder FTD, ins Scheinwerferlicht gerückt. Sowohl ALS als auch FTD sind bis heute unheilbare Nervenerkrankungen, bei denen Nervenzellen unwiederbringlich zerstört werden.

  • ALS und FTD im Vergleich. Quelle: D. Dormann

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Bei ALS sind die oberen und unteren Motoneuronen des Gehirns betroffen, die für die Bewegung der Muskeln zuständig sind. Sterben hier Nervenzellen ab, führt das zu fortschreitender Lähmung, der Patient kann nicht mehr laufen und kann in der späteren Phase der Erkrankung nicht mehr sprechen oder selbstständig atmen. Meist versterben Patienten innerhalb weniger Jahre nach dem Ausbruch der Erkrankung, nur wenige Menschen überleben so lange wie Wissenschaftler Hawking, der ein für die Krankheit außergewöhnliches Alter von 76 Jahren erreichte.

Bei FTD sind die Frontotemporallappen im Gehirn betroffen, die für Sprache und Persönlichkeit zuständig sind. Sterben hier Nervenzellen ab, führt dies zu Sprachstörungen und Persönlichkeitsveränderungen, die besonders für die Angehörigen der erkrankten Person nur schwer zu verarbeiten sind.

Aber warum sterben bei beiden Krankheiten Nervenzellen ab?

Für das Wachstum und Überleben einer Zelle sind sogenannte RNA-Bindeproteine (RBP) essenziell. Diese Proteine sind in der Zelle mit Ribonukleinsäuren (RNA) assoziiert und sorgen dafür, dass diese korrekt prozessiert und abgelesen werden. Dafür müssen die RBP durch Transportproteine in den Zellkern eintransportiert werden.

Bei FTD- und ALS-Patienten ist dieser Transportmechanismus der RNA-Bindeproteine in den Zellkern gestört, sie „verklumpen“ und bilden pathologische Aggregate im Zellplasma, die vermutlich zum Absterben der Zelle führen.

  • Quelle: D. Dormann

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Aber wie genau dieser Prozess auf Protein-Ebene funktioniert, war bisher nicht bekannt. An der Johannes-Gutenberg Universität Mainz hat sich Professorin Dorothee Dormann mit einem zwölfköpfigen Team genau dieser Frage gewidmet. Von 2019 bis 2022 hat die Biochemikerin beide Krankheiten auf Proteinebene genauer unter die Lupe genommen. Besonders zum Projekt beigetragen hat dabei Post-Doktorandin Dr. Saskia Hutten.

  • Post-Doktorandin Dr. Saskia Hutten trug maßgeblich zum Forschungsprojekt bei. Foto: Tobias Schreiner

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Die Untersuchungen im Mainzer Labor wurden dabei nicht, wie sonst oft bei der Erforschung von menschlichen Krankheiten üblich, an Mäusen oder Ratten, sondern an im Labor kultivierten Zellen durchgeführt. „Wir interessieren uns wirklich für die Wechselwirkungen der Faktoren und Proteine auf molekularer Ebene“, sagt Dormann. „Das kann man anhand einfacher Systeme, wie gereinigter Faktoren oder Proteine, viel besser untersuchen als in einem ganzen Organismus. Hier können wir sogar in einzelnen Zellen einen Transportprozess nachverfolgen.“

Fälle von ALS und FTD kommen sporadisch vor, das heißt, die Wissenschaft weiß bis heute nicht, warum diese auftreten. In einer geringen Prozentzahl von erkrankten Personen liegt jedoch ein Gendefekt vor, auf den sich das Absterben der Nervenzellen zurückverfolgen lässt. Und obwohl diese genetischen Formen von ALS und FTD selten sind, lässt sich durch das Erforschen dieser Gendefekte auf molekularer Ebene etwas für alle Formen dieser Krankheiten lernen, sagt Dormann.

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Die häufigste Mutation in genetischen Fällen von ALS und FTD tritt im sogenannten C9orf72-Gen auf. In Erkrankten mit dieser Genmutation produziert der Körper toxische Dipeptide-Repeat-Proteine (kurz DPR-Proteine), die besonders viel von der Aminosäure Arginin enthalten. Bekannt war bisher, dass diese DPR-Proteine stark toxisch für Zellen sind, aber nicht warum. Erste Ergebnisse zeigten, dass diese DPR-Proteine den Transport der RNA-Bindeproteine in den Zellkern stören. Wie dieser Prozess aber genau funktioniert, war aber nicht bekannt.

  • Bakterienkultur im Schüttelinkubator zur Herstellung von Proteinen. Foto: Tobias Schreiner

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Um untersuchen zu können, wie der Transport von Proteinen in den Zellkern funktioniert, müssen diese Proteine zunächst hergestellt werden. Dazu wird die genetische Information des Proteins in eine Wirtszelle, in diesem Falle in Bakterien, eingebracht und somit über das Wachstum der Bakterien hergestellt und vermehrt. Die so gentechnisch hergestellten Proteine werden anschließend isoliert und aufgereinigt – das heißt sie werden von den restlichen Zellbestandteilen getrennt und durch weitere Schritte in ihrer Konzentration erhöht. Anschließend können diese Proteine dann für die weiteren Experimente in Zellen oder im Reagenzglas verwendet werden.

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DPR-Proteine sind durch ihren hohen Arginin-Gehalt stark positiv geladen und binden so effektiv die negativ-geladenen Transportproteine ebenso wie die RNA-Bindeproteine. Die DPR-Proteine beeinflussen also beide Proteine und diese durchlaufen in Folge eine „Phasentrennung“ (das kann man sich vorstellen wie Öltröpfchen auf Wasser) und verklumpen hierdurch. Die RNA-Bindeproteine selbst werden durch die DPR-Proteine auch zum Verklumpen gebracht und lagern sich so im Zellplasma ab, bevor sie in den Zellkern gelangen können.

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Diesen Prozess konnte das Mainzer Forschungsteam nun zum ersten Mal in Zellen mittels  Fluoreszenz-Farbstoffen unter einem High-Tech Fluoreszenz-Mikroskop des Instituts für Molekulare Biologie sichtbar machen: „Wir können die Proteine im Zytoplasma zurückhalten und auf einen bestimmten Stimulus hin – die Hinzugabe eines bestimmten Hormons – dann den Transportprozess auslösen.“

  • Blick in das Fluoreszenzmikroskop am Institut für Biomedizin in Mainz. Foto: Tobias Schreiner

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Durch sequenzielle Aufnahmen am Mikroskop kann man so in gesunden Zellen das grün markierte Protein auf seinem Weg in den Zellkern beobachten. Bei Zellen mit DPR-Proteinen, wie sie bei ALS oder FTD-Patienten vorhanden sind, wird sichtbar, wie die fluoreszenz-markierten Proteine nicht im Zellkern ankommen, sondern im Zytoplasma verbleiben und dort verklumpen.

  • Proteintransport bei gesunden Zellen (-DPR, oben) vor und nach Zugabe des Stimulus: RNA-Bindeproteine werden vollständig in den Zellkern transportiert. Bei Zellen mit DPR-Proteinen (+DPR; unten) erfolgt der Transport zeitverzögert. Foto: D. Dormann

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Die Untersuchungen der Mainzer Forscher hat auch eine neue Erkenntnis gebracht, die Hoffnung für zukünftige Therapieansätze zur Behandlung der ALS und FTD macht: Je mehr Transportproteine sich im Verhältnis zu den schädlichen DPR-Proteinen in einer Zelle aufhalten, umso weniger Verklumpung gibt es. Mehr Transportproteine können – vereinfacht gesprochen – die RNA-Bindeproteine vor den DPR-Proteinen abschirmen und so den Transport in den Zellkern weiter gewährleisten – eine wegweisende Entdeckung.

  • Je mehr Transportproteine, umso weniger Verklumpung durch DPR-Proteine. Grafik: Saskia Hutten

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Es gilt also, in zukünftigen Forschungsprojekten herauszufinden, durch welche Wirkstoffe sich die Bildung von Transportproteinen in den Nervenzellen erhöhen oder wie sich ihre Bindung an die RNA-Bindeproteine effizienter gestalten lässt. Das ist jedoch nicht mehr das Forschungsfeld vom Mainzer Labor um Prof. Dormann, sondern ein zukünftiges Forschungsthema für die Pharmaindustrie und die angewandte Forschung.

  • Am Biozentrum II der Johannes-Gutenberg Universität Mainz wird Prof. Dormann auch in den kommenden Jahren noch weiter erforschen, wie die schädlichen DPR-Proteine Nervenzellen beeinflussen. Foto: Tobias Schreiner

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Was bleibt also nach diesen neuen Erkenntnissen? „Das Forschungsprojekt hat uns viele weitere Forschungsfragen eröffnet“, sagt Dormann. „Wir kennen noch lang nicht alle Bestandteile der Zelle, die von den positiv-geladenen DPR-Proteinen beeinflusst werden. Zurzeit beschäftigen wir uns zum Beispiel damit, wie sie gewisse Enzyme in ihrer Funktion stören.“

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