Fritz Thyssen Stiftung Journal Allgemein Haltungen zu und Akzeptanz von Menschen mit psychischen Krankheiten

Haltungen zu und Akzeptanz von Menschen mit psychischen Krankheiten

„Zurzeit erleben wir eine starke Polarisierung in Deutschland. Ein Teil der Bevölkerung denkt völlig anders über Fremde und Menschen mit anderer Hautfarbe oder sexueller Orientierung als ein anderer Teil. Und wir vermuten, dass diese Polarisierung auch Haltungen zu psychisch kranken Menschen einschließt“, sagt Georg Schomerus. Der Stigma-Forscher macht sich viele Gedanken über Politik und Gesellschaft. Denn während sich die meisten Vertreter seiner Disziplin auf der Suche nach den Ursachen und Folgen psychischer Krankheiten auf das Gehirn konzentrieren, blickt er auf gesellschaftliche Prozesse.

Forschungsprojekt 1: Die Prävalenz biologisch-genetischer Ursachenvorstellungen von psychischen Krankheiten in der Allgemeinbevölkerung und ihre Auswirkungen auf die Akzeptanz psychiatrischer Behandlung und auf die Einstellungen zu psychisch Kranken (2011-2014)

Forschungsprojekt 2: Haltungen zu Menschen mit psychischen Krankheiten in einer sich polarisierenden Gesellschaft (2018-2020)

Von 2011 bis 2014 hat der Professor für Psychiatrie an der Universität Greifswald darüber geforscht, was die Deutschen über Menschen mit psychischen Krankheiten denken. Speziell nahm Schomerus unter die Lupe, wie das Ansehen von Menschen mit Alkoholsucht, Depression oder Schizophrenie davon beeinflusst wird, ob die Befragten biologische oder genetische Faktoren als Ursache für die Krankheiten sehen. Tausende Menschen ließen Schomerus und sein Mitstreiter Professor Matthias Angermeyer 2011 befragen. Seine Erkenntnisse verglich er mit Daten, die Angermeyer Anfang der 1990er Jahre und 2001 in den alten und neuen Bundesländern erhoben hatte. Dabei fanden sie heraus: Depressionen werden heute häufiger als relevantes Problem in der Bevölkerung wahrgenommen als noch vor 20 Jahren, auch wenn „immer noch wenig Leute etwas mit depressiven Menschen zu tun haben wollen“. Alkoholabhängigkeit hingegen ist noch immer stark stigmatisiert. „Menschen mit Alkoholabhängigkeit werden häufig mit Schuldvorwürfen konfrontiert und für charakterschwach und unzuverlässig gehalten.“

  • Prof. Georg Schomerus
    Prof. Matthias C. Angermeyer
    Prof. Eva Baumann

    ©Foto Tobias Schreiner

    Fritz-Thyssen-Journal-Kollage_02

Für die größte Überraschung sorgte jedoch die Bevölkerungshaltung zu Menschen mit Schizophrenie: Weit weniger Deutsche wollten heute etwas mit Menschen mit Schizophrenie zu tun haben als noch in den 1990ern. Eine Ursache dafür ist vermutlich von der Psychiatrie selbst gemacht, vermutet Schomerus. Eine starke Betonung von biologischen und genetischen Ursachen habe dazu geführt, dass die Betroffenen als tiefgreifend anders wahrgenommen werden. Dadurch wirkten sie noch fremdartiger und gefährlicher. Tatsächlich stimme das aber nicht: „Es gibt nicht ‚das Schizophrenie-Gen‘, sondern ein Mehr oder Weniger an persönlichen Risikofaktoren, zu denen verschiedene Gene, aber auch Lebensereignisse und Lebensumstände zählen. Es ist vielleicht sinnvoller, sich psychische Krankheit auf einem Kontinuum vorzustellen. Es gibt schwere Krankheitsverläufe, aber auch Übergänge, Zeiten mit mehr oder weniger Symptomen. Auch Menschen, die nie die Kriterien für eine psychische Krankheit erfüllen, erleben mehr oder weniger ausgeprägte einzelne Symptome. Niemand ist immer 100 % psychisch gesund, und auch nicht 100 % psychisch krank. Tatsächlich pendeln wir alle dauerhaft irgendwo in der Mitte und es gibt viele Dinge, die einen im Laufe der Zeit mal mehr in die eine oder die andere Richtung drücken“, erklärt der Stigma-Forscher. „Entscheidend ist, ob die Symptome so stark und zahlreich werden, dass Dinge im Alltag nicht mehr funktionieren und wir Hilfe brauchen. Erst dann spricht man von einer Krankheit.“

Die mangelnde Toleranz gegenüber Menschen, die anders sind, habe möglicherweise auch etwas damit zu tun, dass die Menschen generell immer risikoscheuer geworden sind. Wir sind Kontrollfreaks – vom Fahrradhelm bis zu unseren Kindern, die wir bis zur Schultür bringen. „Wir haben immer stärker das Bedürfnis, jeden Aspekt unseres Lebens und unsere gesamte Biografie kontrollieren zu wollen. Wir versuchen stetig, möglichst glücklich, gesund und erfolgreich zu sein und nehmen eine Normalität aus 100 % Glück, Erfolg und Gesundheit an, die es nie gibt“, sagt Schomerus. Vielleicht führt dieses Bedürfnis nach Kontrolle des Unberechenbaren zu einer stärkeren Ablehnung von Menschen mit psychischen Krankheiten.

Auf der anderen Seite verändern sich aktuell nicht nur die Haltungen gegenüber Menschen mit psychischen Krankheiten, sondern vor allem auch gegenüber Fremden. Und so führen die Ergebnisse seiner ersten Studie 2011 zu der Fragestellung für die Nachfolgestudie: Wie wirkt sich die zunehmende politische Polarisierung unserer Gesellschaft, insbesondere seit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ 2015, darauf aus, wie wir Deutschen Menschen mit psychischen Krankheiten wahrnehmen? Was halten Gruppen, die Menschen mit anderer Hautfarbe oder anderer sexueller Orientierung ablehnend gegenüberstehen, von Menschen mit psychischen Krankheiten? Und in wieweit unterscheidet sich ihr Bild von den Betroffenen von Menschen, die generell offener gegenüber Fremdem sind?

Professor Schomerus im Interview zu Haltungen zu und Akzeptanz von Menschen mit psychischen Krankheiten 1/2

In der neuen Studie, die ebenfalls von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert wird, widmet sich Professor Schomerus in den kommenden Jahren gemeinsam mit Professor Angermeyer und Professor Eva Baumann (Hochschule Hannover) diesen Fragen. Unterstützt werden sie von den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Stefanie Hahm und Anna Freytag. Im ersten Jahr werden in einer qualitativen Studie 30 bis 40 Menschen aus möglichst verschiedenen sozialen Milieus befragt, um ihre Vorstellungen und Bilder von psychischer Krankheit im Detail zu erheben. Aus den Erkenntnissen dieser Interviews werden dann mittels einer Rahmenanalyse Fragen erstellt, die anschließend 3.000 zufällig ausgewählte Menschen in ganz Deutschland vorgelegt werden. „Dann haben wir anderthalb bis zwei Jahre Zeit, um diesen riesigen Datenschatz auszuwerten und zu veröffentlichen“, sagt Schomerus.

Um eine Vergleichbarkeit der erhobenen Daten mit den Daten der früheren Studien zu gewährleisten, greift das Team auf die gleiche Erhebungsmethodik und einen Kern von identischen Fragen zurück, der es ihnen ermöglicht, die Langzeitstudie fortzusetzen. So entsteht ein einzigartiger Datensatz, der die Einstellung der Deutschen zu psychischen Krankheiten über einen Zeitraum von 30 Jahren abbildet. Die Kombination von Psychiatrie und Kommunikationswissenschaft durch die Zusammenarbeit mit Eva Baumann soll für Furore sorgen: Da das Vorgängerprojekt mit 27 teils hochrangigen Publikationen und zahlreichen Medienberichten wissenschaftlich und medial sehr erfolgreich war, erwarten Angermeyer, Baumann und Schomerus für das neue Forschungsprojekt eine ähnliche Resonanz. „Wir wollen noch tiefer den gesellschaftlichen Kontext von psychischer Krankheit erfragen und uns den Aspekten widmen, die in den vergangenen Studien zu kurz gekommen sind“, sagt Schomerus.

Zusätzlich will das Team die erhobenen Forschungsergebnisse mit Entwicklungen in Österreich und Tschechien vergleichen. „Das Phänomen der Polarisierung ist ja kein Deutsches, das gibt es international von den USA über Frankreich, Ungarn und eben auch Tschechien und Österreich,“ sagt Schomerus. Dort gibt es Arbeitsgruppen mit ähnlichen Forschungsprojekten. „In Österreich läuft die Erhebung schon, so dass wir, wenn wir mit unseren Umfragen fertig sind, direkt vergleichen können.“ In Tschechien ist das Projekt noch in Planung.

Das interdisziplinäre Denken weg von starren Schubladen verdankt Schomerus seiner dreigeteilten Tätigkeit als Psychiater, dem Beruf als Wissenschaftler und Lehrender im Hörsaal. Durch den regelmäßigen Kontakt mit Patienten und Studenten laufen seine Forschungsprojekte nie Gefahr, sich zu weit von der Lebensrealität seiner Forschungssubjekte zu entfernen. Und genau dieses interdisziplinäre Denken zwischen klassischer Psychiatrie, Soziologie und Kommunikationswissenschaft ist der Grund, warum die Fritz Thyssen Stiftung das Forschungsprojekt von Schomerus, Angermeyer und Baumann fördert.

Interview zu Haltungen zu und Akzeptanz von Menschen mit psychischen Krankheiten 2/2

Zum Forscher:

Georg Schomerus ist in Baden-Württemberg geboren und in der Nähe von Tübingen und in Rotenburg (Wümme) aufgewachsen. Nach seinem Studium in Freiburg und London und Stationen in Hannover, Leipzig und Stralsund übernahm Schomerus 2016 den Posten des stellvertretenden Direktors der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie der Universitätsmedizin Greifswald, den er bis April 2019 innehatte. Wenn er nicht in der Klinik Patienten betreute, im Büro forschte oder im Hörsaal Vorlesungen gab, verbrachte er seine knapp bemessene Freizeit am liebsten mit der Familie. Und obwohl er sich zuhause ein großes, lichtdurchflutetes Arbeitszimmer mit Blick auf den Fluss Ryck im historischem Museumshafen der Stadt eingerichtet hatte, setzte er sich nach Feierabend meistens nicht nochmal an den Schreibtisch: „Das gute ist, dass sich die Familie die Zeit einfach nimmt“, sagt Schomerus mit einem Schmunzeln im Gesicht.

Seit Mai 2019 ist Georg Schomerus Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie des Universitätsklinikums Leipzig.

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