Die Fritz Thyssen Stiftung am Deutschen Studienzentrum in Venedig
Kaum eine akademische Institution in Italien vereint interdisziplinäre Forschung, Unterkünfte für Stipendiaten und kulturelle Angebote für die Öffentlichkeit so wie das Deutsche Studienzentrum in Venedig. Hier leben und arbeiten Forscher und Künstler gemeinsam, beschäftigen sich mit Themen, die das Venedig von früher und heute bewegen.
Forschungsprojekt: Cornelio Bianchi – ein venezianischer Arzt in der Levante
In einem prachtvollen Palazzo aus dem 16. Jahrhundert, direkt am Canal Grande, liegt das Deutsche Studienzentrum in Venedig. Mit seiner weiten Terrasse ist der Palazzo Barbarigo della Terrazza gut für die Millionen Touristen zu erkennen, die jährlich auf Booten, Wassertaxis und Gondeln den Kanal entlangfahren. Den exklusiven Blick von der Terrasse auf die Hauptwasserstraße Venedigs können ein paar glückliche Wissenschaftler und Künstler fast täglich genießen, weil sie Dank eines Stipendiums der Fritz Thyssen Stiftung, für mehrere Monate hier forschen und leben. Dr. Sabine Herrmann ist eine von ihnen. Die Historikerin folgt zwölf Monate lang den Spuren des venezianischen Konsulatsarztes Cornelio Bianchi di Marostica (1513-1575), der in seinem Tagebuch von 1542/1543 den Alltag des 16. Jahrhunderts in Damaskus beschreibt. In den historischen Räumen des Palazzo Barbarigo leben und arbeiten zu dürfen, direkten Zugang zu den venezianischen Archiven zu haben und dabei die Vorteile des Lebens in Venedig genießen zu können, „ist schon ein Privileg“, so Herrmann, „Venedig ist für jeden Historiker ein Paradies. Es gibt so wahnsinnig viel zu entdecken“.
Geschichte des Studienzentrums
Die Geschichte des Gebäudes, in dessen Bibliothek Herrmann täglich forscht, reicht bis ins Jahr 1566 zurück, in dem der einflussreiche venezianische Kaufmann Daniele Barbarigo den Grundstein für den späteren Palazzo legen ließ. Barbarigo spielte eine wichtige Rolle im institutionalisierten Levante-Handel Venedigs. Ein anderer Zweig der Barbarigo-Familie stellte im 15. Jahrhundert zwei Dogen. Folglich war diese Familie bedeutsam in jener Zeit, als die venezianische Republik bis nach Zypern reichte und eine mächtige Politik- und Wirtschaftsgröße war. Die Räume, die heute dem Centro gehören, statteten die Barbarigo reich aus, unter anderem trugen sie eine spektakuläre Kunstsammlung zusammen, die Werke so berühmter Maler wie Tizian und Veronese umfasst. So entstanden die teils heute noch sichtbaren prächtigen Räume des Palazzo. „Dieses Gebäude ist damit paradigmatisch für die Geschichte Venedigs und seine Bedeutung im östlichen Mittelmeer-Raum“, sagt Professor Rudolf Schlögl, Historiker für Neuere Geschichte (Frühe Neuzeit) an der Universität Konstanz und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Fritz Thyssen Stiftung.
Die Gründung des Studienzentrums im Jahr 1972 war eine Idee, die wortwörtlich aus der Not entsprang. Denn nach der schweren Überflutung Norditaliens im Jahr 1966 bemühten sich mehrere Organisationen, die Stadt Venedig mit ihren Kulturschätzen zu bewahren. Die „Comitati Privati Internazionali per la Salvaguardia di Venezia“ (dt: die Internationalen Privatkomitees zur Bewahrung Venedigs) waren Teil dieser Initiativen, denen sich auch die Fritz Thyssen Stiftung gemeinsam mit der deutschen Bundesregierung anschloss.
Die Fritz Thyssen Stiftung stellte die Gelder für den Kauf eines Stockwerks des Palazzo Barbarigo bereit „und hat damit praktisch Geburtshilfe geleistet“, sagt Professor Schlögl. Der dann gegründete Trägerverein „Verein Deutsches Studienzentrum in Venedig e.V.“ verwandelte den Sitz der alten venezianischen Händlerfamilie in ein Centro Tedesco, ein deutsches Studienzentrum. Durch dieses frühe Engagement ist die Fritz Thyssen Stiftung heute in den Gremien des Centro vertreten und übernimmt darin eine besondere Rolle. Denn während der Bund vor allem die Grundfinanzierung des Instituts stellt, fördert die Stiftung einen Teil der wissenschaftlichen Aktivitäten in drei Förderformaten: Tagungen, Studienkurse für fortgeschrittene Studierende und ein neu aufgelegtes Postdoc-Stipendienprogramm. Dr. Sabine Herrmann ist die erste Stipendiatin dieses Programms.
Philosophie: Brücken schlagen
Das Centro ist eine interdisziplinäre Einrichtung zur Erforschung Venedigs. „Und damit meinen wir nicht nur die Stadt heute, sondern auch die historische Republik Venedig mit ihren einstigen Herrschaftsgebieten“, sagt PD Dr. Marita Liebermann, die als Direktorin seit 2017 das Deutsche Studienzentrum leitet. Während viele andere akademische Forschungsinstitutionen Deutschlands in Italien auf eine wissenschaftliche Fachrichtung spezialisiert sind, liegt im Studienzentrum der Fokus auf Interdisziplinarität: „Am Studienzentrum werden in vorbildlicher Weise die Beziehungen zwischen einer Vielzahl geistes- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen und Kunst gestaltet und gepflegt“, lobte Prof. Dr. Michael Matheus, Vorsitzender des Centro, bereits bei seiner Amtseinführung im Jahr 2013. Und diese Interdisziplinarität wird auch heute im Studienzentrum hochgehalten. „Das Besondere am Centro ist, dass Wissenschaftler und Künstler jeweils unterschiedlicher Fächer hier gemeinsam leben“, betont Liebermann. Forscher und Künstler können sich hier in ihrem Alltag miteinander austauschen und gegenseitig inspirieren, weil ihnen allen Venedig als Arbeitsthema gemeinsam ist. „Das Studienzentrum ist für mich wirklich ein Ort der ganz besonderen wissenschaftlichen Anregungen“, sagt Professor Schlögl. „Man lernt hier sehr interessante Menschen kennen. Byzantinisten, Kunsthistoriker, Literatur- oder Musikwissenschaftler. Das bringt auch für meine eigene Forschung noch neue Aspekte ein, die ich gerne mitnehme und für die ich mich gerne hier engagiere“. Zugleich können die Wissenschaften durch den interdisziplinären Dialog mit den Künsten, der Bildenden Kunst, Architektur, Literatur und Musik, immer wieder neue Perspektiven entwickeln. Das ist auch deshalb reizvoll, weil Venedigforschung mehr umfasst, als es auf den ersten Blick scheint. So erklärt Matheus: „Die Auseinandersetzung mit der Rolle Venedigs als ‚Commonwealth‘ und über das aktuelle Europa weit hinausreichende Drehscheibe zwischen Osten und Westen, Süden und Norden in der Vergangenheit vermittelt wichtige Impulse für die Gegenwart.“
Zusätzlich ist eine der Hauptaufgaben des Centro, in der Stadt sichtbar zu sein. „Uns ist wichtig, dass die Stipendiatinnen und Stipendiaten sich mit den Bewohnern Venedigs und den anderen internationalen Forschern, die hier arbeiten, austauschen“, sagt Privatdozentin Liebermann. „Deshalb sollen sie nicht nur hier im Studienzentrum forschen, sondern in die Stadt hinausgehen, die Archive und Bibliotheken kennenlernen, aber auch am Alltag teilnehmen, Cafés genießen, Kontakte knüpfen. Sie sind nicht nur Repräsentanten des Centro sondern auch in gewisser Weise Deutschlands, denn wir werden hier unwillkürlich als ‚die Deutschen‘ wahrgenommen.“
Das Studienzentrum selbst trägt seinen Teil zum venezianischen Leben durch regelmäßige Tagungen und Vorträge bei, die auch für die Öffentlichkeit und Gäste aus der ganzen Stadt offenstehen. „Wenn man nach einem solchen Vortrag zusammensitzt und sich austauscht, dann bekommt das eindeutige Bild, das viele in Italien von Deutschland haben, plötzlich ein neues Gesicht“, sagt Liebermann. „Und dieser interkulturelle Austausch ist sehr wichtig, gerade in den heutigen Zeiten“.
Leben und Arbeit im Centro
Sabine Herrmann ist seit der Schulzeit fasziniert von der Geschichte des Nahen Ostens. Sie lernte schon in der Mittelstufe Altägyptisch und studierte später Ägyptologie, Orientalistik und Archäologie an den Universitäten Tübingen und Würzburg. Heute forscht sie auf den Spuren des venezianischen Arztes Cornelio Bianchi. Mitte des 16. Jahrhunderts reiste dieser nach Damaskus in Syrien, um dort am venezianischen Konsulat der Handelskolonie als Arzt die Konsulatsmitglieder, venezianische Händler, aber auch Juden und Muslime, sowie hohe Bedienstete und städtische Eliten der osmanischen Besatzer von Damaskus zu behandeln. Doch nicht nur das: Bianchi verdiente zusätzlich als „agente di commercio“ (Handelsagent) sein Brot. Herrmann erklärt: „Die berühmte Damaszener Handwerkskunst war im 16. Jahrhundert sehr gefragt in Haushalten reicher Venezianer, und Bianchi fungierte als Mittelsmann zwischen venezianischen Händlern in Tripolis im Norden des heutigen Libanon, die ihm Rohwaren lieferten, welche er dann weiter an Handwerker in Damaskus verkaufte.“. Auf Initiative Bianchis seien die dort gefertigten oder veredelten Handwerksartikel wieder zurück nach Tripolis transportiert worden und wurden dort nach Venedig verschifft.
Warum ein Tagebuch aus dem 16. Jahrhundert so interessant für die Wissenschaft ist? Als eines der wenigen erhaltenen Originaldokumente der Zeit hat das „Diario“ Bianchis großen Wert für die Wirtschaftsgeschichte, die Neuere Geschichte, die Medizin- und Sozialgeschichte, die Islamwissenschaften, Ethnologie und Religionswissenschaften aber auch die Literaturwissenschaften, insbesondere die Tagebuchforschung. „Das Tagebuch Bianchis ist ein sehr vielfältiges Dokument, das explizit über alles berichtet, was der Autor in Syrien erlebt hat“, sagt Herrmann. Es umfasse nicht nur Patientenakten, Beschreibungen von Therapeutika und Heilmethoden, sondern auch interessante Details aus dem Alltagsleben im Syrien des 16. Jahrhunderts. Zudem wird viel über das Verhältnis zwischen Venezianern und Damaszenern verraten. Als die wenigen Privilegierten ihrer Zeit, die die gefährliche Reise von Venedig nach Syrien unternehmen konnten, fungierten Konsulatsärzte wie Bianchi auch als erste „Brückenbauer“ zwischen Europa und dem Nahen Osten.
Das bisher nicht gefundene zweite Tagebuch Bianchis
So viel wie Sabine Herrmann auch bereits über das Venedig und das Damaskus des 16. Jahrhunderts durch das Tagebuch Cornelio Bianchis herausgefunden hat – das große Rätsel der Venedigforschung bleibt: Wo ist das zweite Tagebuch von Cornelio Bianchi, das dieser in seinem ersten Tagebuch erwähnt? Bis heute ist das Buch verschollen, Experten vermuten, dass es sich noch immer in den Tiefen der venezianischen Archive befindet. „Das motiviert mich natürlich, dieses Tagebuch zu finden. Man spielt im Berufsalltag als Historiker oft Detektiv, und es ist die Neugier, das bisher nicht Gefundene zu finden, die einen so reizt“, sagt Herrmann. Es gäbe noch Tausende Akten in den venezianischen Archiven, die noch von niemandem eingesehen wurden, erklärt sie.
Ob sie noch einmal für ihre Forschungen nach Venedig kommen würde? „Auf jeden Fall“, sagt Herrmann, während sie gemeinsam mit Professor Schlögl von der Terrasse des Palazzo Barbarigo auf den Canal Grande schaut. Und auch Schlögl freut sich, in seiner Aufgabe Kuratoriumsmitglied des Studienzentrums, in Zukunft noch oft zurück ins Centro zu kommen und gemeinsam mit den zukünftigen Stipendiaten in die Geschichte Venedigs einzutauchen.